Portraits

Freiwillige im Einsatz

Wie Freiwillige und Wissenschaft zusammenarbeiten

Der Begriff Citizen Science heisst auf Deutsch Bürgerwissenschaft. Er bezeichnet eine über die Jahrhunderte gängige Methode, Freiwillige an Wissenschaft zu beteiligen. Als Begriff wurde er jedoch erst 2014 ins Oxford English Dictionary aufgenommen. Mit Pia Viviani, Expertin für Citizen Science, haben wir unter anderem über das Potenzial von Citizen Science gesprochen.

Wie lässt sich Freiwilligenarbeit mit Citizen Science verbinden?

Citizen Science ist Freiwilligenarbeit. Citizen Scientists sind Freiwillige, die wissenschaftliche Arbeiten ausführen wie zum Beispiel Vögel beobachten, historische Dokumente transkribieren, Bilder von Galaxien analysieren, Luftqualität messen oder zusammen mit akademischen Forschern an einer neuen Therapie für eine Krankheit arbeiten. Es gab Versuche, Citizen Scientists zu bezahlen um zusätzliche Anreize zu schaffen, an einem Projekt mitzuarbeiten. Interessanterweise war dieser finanzielle Anreiz aber kontraproduktiv. Es wurde betrogen und geflunkert, um möglichst viel Geld zu verdienen. Die wissenschaftlichen Resultate waren somit nicht zu gebrauchen.

Was zeichnet die Freiwilligenarbeit in diesem Bereich aus?

Ein grosses Interesse am Thema. Citizen Science funktioniert nur dann, wenn die Resultate stimmen. Eine ungenaue Transkription eines Tagebuchs aus dem 2. Weltkrieg oder eine frei erfundene Anzahl Vögel im Garten nützen nicht viel und verfälschen gar korrekte Daten. Das heisst aber nicht, dass man als Citizen Science Neuling schon ein Experte oder eine Expertin sein muss. Viele online Citizen Science Projekte bieten einfache Video-Tutorials und sonstige Unterstützung an, damit wirklich alle mitmachen können, die sich interessieren. Bei Naturbeobachtungen ist beim ersten Mal häufig jemand Erfahrenes dabei oder eine App bietet Unterstützung bei der Bestimmung einer Beobachtung.

Was sind Chancen und Grenzen für die Wissenschaft, um mit Freiwilligen zu arbeiten?

Die akademische Wissenschaft wird immer globaler, für lokale Feinheiten – beispielsweise in der Natur oder Ortsgeschichte – bleibt kaum mehr Zeit. Hier können nicht-akademische Experten zum Zuge kommen. Der Citizen Scientist Felix Amiet hat mit seiner Wildbienenforschung gar einen Ehrendoktortitel bekommen. Eine weitere Chance besteht darin, Forschung etwas praxisnaher zu gestalten – besonders in der Gesundheitsforschung ein wichtiges Thema. Aber auch in der Quartierentwicklung können Bürgerforschende eine wichtige Rolle spielen. Statt nur zu behaupten, die Luft an der einen Kreuzung sei schlecht, bestehen viel grössere Chancen auf Verbesserung, wenn man dies mit eigenen Messungen im Quartier auch nachweisen kann. Und ganz wichtig: Innovation. Freiwillige können Citizen Science Projekte starten, wo auch immer sie Bedarf sehen. In dieser Freiheit gegenüber der reglementierten akademischen Forschung sehe ich ein grosses Potenzial, neue Themen oder Herangehensweisen zu testen.

Welche Eigenschaften bringen die Citizen Scientists mit?

Neugierde ist das Wichtigste. An vielen Citizen Science Aktivitäten kann man mitmachen ohne irgendein spezifisches Wissen. Für Freiwillige mit einer speziellen Expertise in beispielsweise Tier- und Pflanzenarten, Ortsgeschichte, Latein oder Ägyptologie, tun sich noch viele weitere Möglichkeiten auf, an Citizen Science Projekten mitzumachen und sich mit Menschen mit gleichen Interessen auszutauschen. Wer besonders proaktiv ist, kann nicht nur an bestehenden Projekten mitmachen, sondern auch eigene Aktivitäten starten. Das Schöne ist ja genau, dass nicht nur «echte» Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – also solche an einer Hochschule – Aktivitäten starten können.

Welche Chancen bieten sich für Citizen Science durch die Gamifizierung?

Durch Gamifizierung lassen sich Menschen erreichen, die dachten, Wissenschaft sei langweilig oder zu kompliziert für sie. Ein Game kann online stattfinden, indem man beispielsweise ein dreidimensionales Nervenzellen-Puzzle löst wie bei «eyewire», einem Klassiker. Damit hilft man Forscherinnen zu verstehen, wie Nervenzellen sich vernetzen, um die visuellen Informationen aus den Augen zu verarbeiten. Oder aber man begibt sich draussen in der Natur auf eine Schatzsuche. Der Schatz ist eine besonders seltene Pflanze. Die Schatzkarte dazu erhält man bei der Stiftung Info Flora.

Was sind die Vor- und Nachteile von Gamifizierung?

Der Vorteil ist, dass durch das Spielerische natürlich viel mehr Menschen zum Mitmachen animiert werden. Der grösste Nachteil ist der Anreiz zu gewinnen. Genau wie bei einer Bezahlung machen manche Freiwillige nicht mehr mit wegen dem eigentlichen Inhalt, sondern um zu gewinnen. Einen Weg zu schummeln gibt es immer. Damit werden Daten verfälscht und die wissenschaftlichen Resultate stimmen nicht mehr. Stichprobenkontrollen können das Problem der Schummelei aber mindern.

Welche regionalen oder schweizerischen Angebote gibt es für Citizen Science/Gamifizierung?

Einen grossen Teil der Schweizer Citizen Science Projekte finden Sie auf der Webseite www.schweiz-forscht.ch – schön sortiert nach Themen, so dass jede und jeder auswählen kann, wo es am interessantesten ist mitzumachen. Die Genfer Firma MMOS hat sich auf die Entwicklung von Citizen Science Games spezialisiert. Zudem bin ich in Gesprächen mit Museen und einem Quartierverein und hoffe, dass der Aargau bald zum Citizen Science Kanton wird!

Die Stiftung Info Flora, das nationale Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora, hat eine App entwickelt, um das Wissen über die Verbreitung gefährdeter Pflanzenarten in der Schweiz zu aktualisieren. Bei der Mission «Entdecken» können sich freiwillige Feldbotaniker auf www.obs.infoflora.ch die „Schatzkarte“ zu einem alten Fundort einer gefährdeten Pflanzenart herunterladen. Anschliessend gehen die Freiwilligen draussen in der Natur auf die Suche und melden Info Flora via dem App «FlorApp», ob die Art an diesem Ort noch vorkommt oder verschwunden ist. Die Freiwilligen tragen somit dazu bei, dass die Standorte gefährdeter Arten besser bekannt sind und diese somit auch besser geschützt werden können.

Quelle: Interview mit Pia Viviani, Gründerin und Geschäftsführerin der catta GmbH (Beratung und Projektleitung für Citizen Science und Wissenschaftskommunikation), Aarau